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Und in den Uhren ist auch Zeit

Text: Mirco Lomoth  | Fotos: Astrid Prangel
Geo Saison, Reisen mit Kindern — 01/2012

   ie Götter versammeln sich unter dem Aprikosenbaum. Auf dem blauen Tisch in ihrer Mitte liegt ein weißer Plüschhund. Hephaistos, Herrscher über das Feuer, trägt ein orangenfarbenes Piratenkäppi mit gekreuzten Säbeln und Totenkopf: Leander, 8, hat sich schon mal für das nächste Abenteuer eingekleidet, eine Piraten-Bootstour. Hera, in Gestalt seiner Schwester Leonie, 11, Zeus, verkörpert von Jakob, 8, Jakobus, 9, als Poseidon und vier weitere Bewohner des Olymps stecken in weißen Gewändern: Zuvor haben sie auf der Wiese am Strand den Streit um den Erisapfel aufgeführt, der den Trojanischen Krieg auslöste. Jetzt ist Philosophiestunde im Familienhotel „Daphnis und Chloe“ in Thermí an der Ostküste der griechischen Insel Lesbos. Es geht um die Frage: „Was lebt?“

Leander: „Alles, was isst und trinkt, lebt“
Leonie: „Vielleicht lebt ein Stein auch?“
Jakob: „Und vielleicht haben Kuschel-tiere auch Gefühle, dann sind sie echt“
Leonie: „Er ist echt, er bewegt sich.“
Jakobus: „Aber du bewegst ihn doch!“

An klaren Tagen schaut man vom Hotelstrand über das Ägäische Meer bis zum türkischen Festland, sieht das Ida-Gebirge, von wo aus die Götter das umkämpfte Troja beobachtet haben sollen. Auch Pergamon und Ephesus sind nicht weit. Lesbos lag einmal im Zentrum der antiken Welt. Das Haupt des Sängers Orpheus wurde einst an den Strand von Ántissa gespült, heißt es, und habe der Insel die Dichtkunst vermacht. Hier verfasste die Lyrikerin Sappho im 7. Jahrhundert vor Christus ihre erotischen Verse, hier spielte die antike Liebesgeschichte „Daphnis und Chloe“ von Longos, und Aristoteles soll eine Weile in Mytilíni gelebt haben, der heutigen Hauptstadt.

Ein guter Ort zum Philosophieren, findet die Hamburger Pädagogin Kristina Calvert, die de Philosophiekurse für Sieben- bis Dreizehnjährige anbietet. Sie sitzt am Tischende, 50 Jahre alt, eine Frau mit langen blonden Haaren, die von einem blauen Tuch zurück gehalten werden.
Seit mehr als 20 Jahren philosophiert sie mit Kindern, sie hat Bücher darüber geschrieben, bildet Lehrer aus und bietet regelmäßig Philosophiekurse an – sie hat Bücher darüber geschrieben, bildet Lehrer aus und bietet regelmäßig Philosophiekurse an –in Schulen, Kunsthallen, botanischen Gärten oder eben auf Lesbos. Und immer wieder staunt sie über den kindlichen Mut, ins Unreine zu denken. Sie fragt in die Runde: „Kennt ihr etwas, das lebt und nicht stirbt?“

Jakobus: Gott.
Mia: Die Götter.
Jakobus: Die Götter leben, sie sind unsterblich.
Silas: Flüsse leben auch, sterben aber nicht.
Leonie: Und wenn sie austrocknen?
Teresa: Ich weiß etwas, das lebt und nicht sterben kann – die Seele.
Leonie: Vielleicht ist die Seele ja flüssig?
Jakobus: Es gibt viele Seelen, vielleicht werden sie alle zu einem Fluss.
Teresa: Aber die Seele ist nicht so flüssig wie Wasser.
Jakob: Die Seele ist aus Luft, und Wasser geht auch in die Luft, wenn es verdunstet …


Ganzer Text in GEO SAISON – Reisen mit Kindern 2012
Fotos: www.astridprangel.de