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Teenage Rockstar

TEXT & FOTOS: MIRCO LOMOTH
NATUR | NR. 5/16 – 01.05.2016

   igentlich hätte er nie erwachsen werden sollen. Wenn alles normal verlaufen wäre, hätte er bis zu seinem Tod als Larve im Wasser gelebt. Doch jetzt liegt 108012616 als ausgewachsener Salamander in einer kleinen gelben Plastikkiste in einem Laborraum des Instituts für Biologie an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM). Die buschigen Kiemenäste, die früher wie Federschmuck hinter seinem Kopf hervorwuchsen, sind zu Lungen geworden, die Flossensäume an seinem Schwanz haben sich zurückgebildet. Reglos liegt er dort, mit zusammengerolltem Schwanz, und schaut aus schwarzen Knopfaugen ins Labor, wo dutzende seiner Artgenossen in Aquarien und blauen Plastikwannen umher schwimmen. Anders als 108012616, werden sie wahrscheinlich ihr ganzes Leben als Larven im Wasser verbringen, wie es für Axolotl üblich ist. Der Mexikanischen Schwanzlurch, Ambystoma mexicanum, aus der Familie der Querzahnmolche, vermeidet die für Amphibien typische Metamorphose von der kiemenatmenden Larve zum lungenatmenden Landbewohner. Er schaltet einfach eine Lebensphase aus und bleibt stattdessen für immer jugendlich.

Diese ewige Jugend ist es, die dem Axolotl zu Weltruhm verholfen hat. Seit 1864 die ersten lebenden Exemplare aus Mexiko nach Paris gelangten, verbreitete sich der Axolotl von dort in Labore und Aquarien auf der ganzen Welt. In seinem ursprünglichen Lebensraum jedoch, den Seen im Tal von Mexiko, in direkter Nachbarschaft zur Mega-Metropole Mexiko-Stadt, ist er nahezu ausgestorben. Biologen der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko wollen seinen Fortbestand durch Auswilderungsprojekte sichern. Im Labor beobachten sie die Entwicklung vom Ei zur ausgewachsenen Dauerlarve, untersuchen bevorzugte Lebensweisen und das Fortpflanzungsverhalten des ewig Jugendlichen, der auch ohne Metamorphose zum erwachsenen Landtier Nachkommen zeugen kann. Axolotl bremsen sozusagen ihre körperliche Entwicklung, bilden aber dennoch im Alter von acht Monaten bis zu zwei Jahren ihre Fortpflanzungsfähigkeit aus.

Diese Vorverlegung der Geschlechtsreife ins Jugendalter nennt sich Neotenie. Das Wort setzt sich zusammen aus dem griechischen „neos“, das neu oder jung bedeutet, und „tenein“ für dehnen, strecken oder zurückhalten. „Neotenie kommt in unterschiedlichem Maße bei fast allen Schwanzlurchen vor“, sagt der Biologe Randal Voss, Axolotl-Experte an der Universität Kentucky, der mit seinem Team eine der größten Axolotl-Laborpopulationen weltweit unterhält – mit rund 1200 Individuen. „Es ist für sie eine Strategie, um aquatische Lebensräume auszunutzen und dadurch einen Fitness-Vorteil zu gewinnen.“

Diese Vorverlegung der Geschlechtsreife ins Jugendalter nennt sich Neotenie. Das Wort setzt sich zusammen aus dem griechischen „neos“, das neu oder jung bedeutet, und „tenein“ für dehnen, strecken oder zurückhalten. „Neotenie kommt in unterschiedlichem Maße bei fast allen Schwanzlurchen vor“, sagt der Biologe Randal Voss, Axolotl-Experte an der Universität Kentucky, der mit seinem Team eine der größten Axolotl-Laborpopulationen weltweit unterhält – mit rund 1200 Individuen.

„Neotenie ist für die Axolotl eine Strategie, um aquatische Lebensräume auszunutzen und dadurch einen Fitness-Vorteil zu gewinnen.“

Auch der Mensch gewann evolutionäre Vorteile durch Neotenie. Der niederländische Anatom Louis Bolk wies bereits 1920 daraufhin, dass Menschen jungen Affen ähnlich seien, zwar geschlechtsreif, aber in der körperlichen Entwicklung zurückgeblieben. Als Beweis führte er mehr als 20 unterschiedliche „pädomorphe“ Merkmale auf, darunter den gerundeten Schädel und das flache Gesicht des Menschen, die denen junger Affen entsprechen. Der amerikanische Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould griff Bolks Beobachtungen 50 Jahre später wieder auf. Nach Gould spielte die verzögerte Entwicklung des Menschen eine entscheidende Rolle im evolutionären Prozess: Wir verbringen neun Monate in der Gebärmutter, unsere embryonale Wachstumsphase setzt sich nach der Geburt fort und einen großen Teil unseres Lebens sind mit dem Aufwachsen und Lernen beschäftigt. Nur so kann unser Gehirn zu einer Größe reifen, die andere Primaten nicht erreichen. Für den Menschen ist Neotenie demnach eine Quelle seiner Intelligenz.

Nur wenige Schwanzlurcharten praktizieren Neotenie so konsequent, wie der Axolotl. Für einige ist es nur eine Option, die sie zu ihrem Vorteil nutzen können – oder eben auch nicht. Beim europäischen Bergmolch etwa, der in Gewässern europäischer Hügel- und Bergregionen verbreitet ist, haben Wissenschaftler beobachtet, dass geschlechtsreife Larven und erwachsene Tiere in ein und derselben Population gleichzeitig vorkommen können. Manche Bergmolche ziehen es also vor, wie der Axolotl als Larve im Wasser zu bleiben, andere nicht. „Wir wissen nicht wann Bergmolche entscheiden, ob sie weiter als Larve leben wollen“, sagt Kupfer. „Aber aus Experimenten sind Umweltfaktoren bekannt, die Neotenie beeinflussen, etwa Temperatur, Nahrungszusammensetzung, Wahrscheinlichkeit der Austrocknung des Habitats und Dichte der darin lebenden Individuen.“…


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