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Weisse Wege

Redaktion und Texte: Mirco Lomoth | Fotos: Gulliver Theis
National Geographic Deutschland | 2016

   ür National Geographic Deutschland habe ich drei Beilagen aus dem Schweizer Winter produziert – von der Themenidee über die Recherche vor Ort bis zur Heftproduktion. Im Berner Oberland habe ich den Extremkletterer Ueli Steck zu Jungfrauchjoch, Mönch und Eiger-Nordwand begleitet – den Bergen seiner Heimat. In Graubünden bin ich mit Schneeschuhen zu eingeschneiten alten Walserdörfern gewandert. Und im Wallis, am gigantischen Altesch-Gletscher, hat mich Skilehrer Lehrer Kilian Volken mit 40 Jahren zum ersten Mal auf die Piste bekommen. Hier meine Reportage mit Ueli Steck, der seither tragisch verunglückt ist, aus dem Berner Oberland:

Die Lichter von Grindelwald strahlen ins Dunkelblau der Dämmerung, Rauchsteigt aus Schornsteinen auf, ein Bergbach rauscht durch sein Bett aus Schnee. Es ist ein frostiger Morgen am Fuße der Berner Alpen. Der Mann, der mir seine Bergheimat zeigen will, steht schon an der Loipe. Eine drahtige Figur, Tourenski unter den Füßen, Trinkflasche am Gürtel, bereit für eine winterliche Trainingseinheit. Er will schnell los, die 1100 Höhenmeter überwinden, die uns von der Passhöhe Kleine Scheidegg am Fuße der Eiger-Nordwand trennen. Niemand hat diese legendäre Wand schneller durchstiegen als er, den sie auch „The Swiss Machine“ nennen. Steck drückt auf die Knöpfe seiner Armbanduhr und verschwindet im dunklen Wald.

Ich versuche gar nicht erst, mit dem Speed-Kletterer Schritt zu halten, und steige in die Wengneralpbahn, die gemächlich den steilen Hang hinaufzuckelt. Oben wollen wir uns wieder treffen. Eine eingezuckerte Winterwelt zieht an mir vorbei, die Äste der Tannen biegen sich unter der Last des Schnees. Die Chalets im Tal schrumpfen auf Spielzeuggröße. Auf der Kleinen Scheidegg treiben Windböen Pulverschnee auf die Gleise, Arbeiter in roter Warnweste schippen dagegen an. Die Eiger-Nordwand ragt schartig in den Himmel.

Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um sie in ihrer ganzen Wucht zu erfassen. Über dem Gipfel des Eiger zeigen sich die ersten Sonnenstrahlen, an den Flanken der Nachbargipfel Mönch und Jungfrau leuchtet hellblaues Gletschereis, das an den Rändern zerspringt wie brüchiges Porzellan. Stundenlang könnte ich hier stehen und mich hineinträumen in die eisigen Höhen. Dann, plötzlich, steht Ueli Steck neben mir, ohne ein Anzeichen von Erschöpfung. 75 Minuten hat er für eine Strecke gebraucht, die für mich eine Tagesetappe wäre.

Durch eine alte Drehtür treten wir ein ins Bellevue des Alpes, ein ehrwürdiges Grandhotel aus dem 19. Jahrhundert mit sympathischen grünen Fensterläden. Von der Terrasse des Bellevue aus beobachtete die Weltpresse frühe Versuche, die Eiger-Nordwand zu durchsteigen: 1936, als die deutschen Bergsteiger Toni Kurz und Andreas Hinterstoißer und zwei Österreicher abstürzten; 1938, als die Seilschaften Heckmair-Vörg und Harrer-Kasparek sich trotz Lawinenabgängen in zwei Tagen bis zum Gipfel vorkämpften.

An diesem Wintermorgen liegt die Terrasse unter einer meterhohen Schneedecke.

Wir setzen uns in den holzvertäfelten Gastraum. Ueli Steck erzählt, wie ihn der Mythos Eiger schon als Junge packte, wie er die Wand mit 18 Jahren zum ersten Mal bezwang. Er spricht langsam, mit bernerdeutschem Einschlag – viel langsamer, als man es bei jemandem erwarten würde, der dieses Bollwerk zuletzt in zwei Stunden und 22 Minuten bezwang, ganz auf sich gestellt: ohne Seilschaft, über Eisfelder, durch den berüchtigten Wasserfallkamin und den Hinterstoisser-Quergang. 

Er kennt diese Wand wie kein Zweiter. 41-mal hat er sie durchklettert, einmal auch mit seiner Frau Nicole. Sie haben am „Todesbiwak“ übernachtet, wo 1935 der erste Versuch tödlich gescheitert war, die Eiger-Nordwand zu besteigen. Zum Abendessen gab es Pasta und Rotwein. Stecks stahlblaue Augen leuchten, als er von diesem Moment erzählt. Und davon, wie gern er in den Berner Alpen unterwegs ist. „Es ist schön, dort oben zu sein und kalte Finger zu haben. Ich spüre dann, wie einfach das Leben sein kann und wie glücklich das macht.“

Mit der Jungfraubahn fahren wir in diese Welt, die er liebt, steil hinauf durch einen Tunnel auf 3454 Meter. Seit mehr als hundert Jahren bringt diese Zahnradbahn Touristen auf das Jungfraujoch, unterwegs hält sie kurz an einer Tunnelstationmitten in der Eigerwand. Ich werfe einen Blickfast senkrecht in die Tiefe und drehe mich fragend zu Ueli Steck um. „Zum Glück hatte ich noch nie Angst vor der Tiefe“, sagt er. 

Die Bahn fährt weiter zum „Top of Europe“, einer touristischen Erlebniswelt mit Restaurants, Souvenirläden und einem in den Gletscher geschlagenen Eispalast. Viele Koreaner, Japaner und Chinesen sind an diesem Morgen hier. Sie essen Instant-Nudeln. Uns zieht es hinaus in die gleißend weiße Welt hinter den Panoramafenstern.

Böen treiben Schneepulver vor sich her, zerzauste Bergdohlen flattern vor einer konturlosen Wolkenkulisse. An einem Felsen sind Eiszapfen fast waagerecht gewachsen. Und was für eine Aussicht! Mönch und Jungfrau scheinen zum Greifen nah, im Süden erstreckt sich der gigantische Aletschgletscher, nach Norden liegt uns das Berner Oberland zu Füßen. 

Steck schaut auf seine Heimat. Fast täglich trainiert er in diesen Bergen, läuft, fährt Tourenski oder Langlauf, klettert, fliegt an windstillen Tagen mit dem Gleitschirm zurück ins Tal. Dort unten liegt sein Haus am Brienzersee, etwas weiter westlich das Niederhorn, wo man vor dem Panorama von Eiger, Mönch und Jungfrau Ski fahren kann.

Zwischen den Wolken lässt sich das Schilthorn mit dem Bergrestaurant Piz Gloria erahnen, wo 1968 die winterlichen Bergszenen des James Bond-Films „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“ gedreht wurden. Und dort drüben, gleich hinter der Grenze zum Kanton Luzern, hat Steck von einem Freund des Vaters mit zwölf Jahren das Klettern gelernt. „Die Berner Alpen sind mein Spielplatz“, sagt er. Die Schönheit der Natur genieße er am meisten, wenn er seinen Körper spüre. „Wenn du etwas investierst, dann geben dir schöne Orte viel mehr.“

Ich will etwas investieren, wenn auch nicht in Ueli Stecks Tempo. In Kandersteg, einem urigen Bergdorf im Südwesten des Berner Ober-lands, treffe ich Fritz Loretan, ein Bergführer-Urgestein mit grauem Vollbart und Holzpfeife im Mundwinkel. Steck hat mir den Ort empfohlen, weil er im Winter oft zum Eisklettern herkommt. Im Öschiwald und weiter oben in den Bergen, etwa am malerischen Öschinensee, ergießen sich im Winter Dutzende Eisfälle über steile Felswände: fantastische Skulpturen, an denen sich Kletterer mit Pickel und Steigeisen hochziehen.

Mit Loretan nehme ich die Sunnbüelbahn südlich von Kandersteg. Wir fahren auf knapp 2000 Meter. Der 65-Jährige, das Gesicht von tiefen Lachfalten durchzogen, schlägt seine Pfeife aus, schnallt sich gelbe Schneeschuhe unter und stapft durch den Neuschnee voran in eine einsame Landschaft. Mir gefällt das Tempo, nicht gerade rekordverdächtig, dennoch fordernd. Ein Steinadler kreistüber uns, eine Gruppe Gämse klettert am Hang. Bald wird der Wind stärker und bläst von allen Seiten Schnee heran, der uns schließlich ganz umhüllt. Wir erreichen eine alte Alphütte, die bis unters Dach eingeschneit ist, und warten in ihrem Windschatten. 

Allmählich klart es auf, die umliegenden Berge erscheinen: das Gällihorn, die Pyramide des Altels. Dann erkennen wir auch den Weg hoch zum Gemmipass, der hinüber ins Wallis führt. Irgendwo dort oben liegt die 1742 erbaute Schwarenbachhütte, in der schon Mark Twain und Guy de Maupassant übernachteten. Wir sind vollkommen allein inmitten einer vom Schnee verschluckten Bergwelt – mit kalten Fingern und glücklich. Ueli Steck hatte recht: Es lohnt sich zu investieren.

Ich begegne ihm noch einmal auf der Lombachalp nördlich vom Brienzersee. Er sitzt im molligen Jägerstübli unter einem Gamsgeweih, im Hintergrund laufen Berner Jodellieder. Die Wirtin zündet ein Rechaud an und serviert uns ein würzig duftendes Käsefondue, dazu Brotstücke zum Eintunken, Glaszwiebeln und Gürkchen. Für Steck ist das schwere Gericht seiner Heimat eine Ausnahme, es passt nichtzum Trainingsplan. Doch er taucht seinen Spieß immer wieder in den cremigen Käse und stochert nach der „Großmutter“, dem angesetzten, knusprigen Käseboden. „Wenn man erst mal anfängt, ist es schwer wieder aufzuhören“, sagt er. Zu Hause esse er nur leichte undregionale Kost, wie Chäs und Gschwellti: Alpkäse und gekochte Kartoffeln. „Im Sommer fliege ich manchmal mit einem Freund über den Brienzersee auf eine Alp, um beim Bergbauern Käse zu kaufen, und am Nachmittag wieder zurück, das geht bei guter Thermik.“

Es sind auch solche Dinge, die Steck an seiner Heimat schätzt: die Produkte aus den Bergen und die Bergler, die so angenehm einfach im Umgang sind. „Man trifft Leute, die in ihrem eigenen Mikrokosmos mit ihren Kühen auf der Alp leben und vollkommen zufrieden sind“, sagt er. „Ich kenne viele Orte auf der Welt, aber nirgends möchte ich lieber leben als hier, wo ich morgens losfahre und mittags schon auf einem Viertausender bin. Es ist einfach alles da.“