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Land am Meer

Texte und Redaktion: Mirco Lomoth | Fotos: Gulliver Theis  | National Geographic Traveler 2017

   ür National Geographic Traveler habe ich gemeinsam mit dem Fotografen Gulliver Theis ein Reiseheft zu Wales realisiert. Wir waren unterwegs auf dem Küstenwanderweg Wales Coast Path, mit Muschelfischern auf der Menai Strait und haben uns auf der Insel Anglesey beim Coasteering von Felsen in die Brandung der Irischen See gestürzt – der walisische Sport ist hört sich verrückt an, aber wenn man erstmal damit anfängt, ist es wie mit vielem in Wales: Man kommt nicht mehr davon los.

Hier ein Auszug aus meiner Reportage über einen Roadtrip auf der A487 entlang der Küste von Conwy bis Pembrokeshire:

Diese Namen! Bontnewydd. Cwmystradllyn. Penrhyndeu­ draeth. Und: Llanfairpwll gwyn­ gyllgogery­chwyrndrobwll llantysilio gogogoch. In Wales nach dem Weg zu fragen, ist für Nicht­Waliser ein aussichtsloses Unterfangen. Zum Glück gibt es GPS, denke ich, als ich meine Fahrt auf der A487 nach Süden starte. Intensiv grüne Hügel, Schafe grasen hinter Schiefermauern, steinerne Gehöfte liegen und einsam auf den flachen Kuppen. Im Radio läuft walisische Chormusik. Tiefe Männerstimmen singen vom Land ihrer Väter und Vorväter. Der melancholische Gesang verschmilzt mit der Weite der Landschaft.

Drei Tage werde ich auf der A487 unterwegs sein. Ich will die walisische Küste erkunden, an Burgen, Stränden und in Hafenstädten halten und nach Orten suchen, die dieses Land ausmachen. Rund 280 Kilometer führt die Fernstraße von Nord nach Süd durch Wales, meist in unmittelbarer Nähe zum Meer.

Am Abend zuvor bin ich in Caernarfon noch auf den höchsten Turm der Burg gestiegen, die sich über der Meerenge von Menai erhebt. Ich schaute auf die mit Efeu bewachsene Stadtmauer, die schiefergedeckten Häuser der Altstadt und die Kaimauer, auf der die Menschen in der Sonne Fish`n Chips aßen und Bier tranken. Tiefblaues Wasser strudelte im Sog der Gezeiten. Hinter mir, im Landesinnern, erhoben sich grüne Rundungen unter schweren Wolken.

Massig und drohend kam mir an diesem Abend die alte Burg von Caernarfon vor. Eduard I., König von England, ließ sie im 13. Jahrhundert erbauen, kurz nachdem er Wales erobert und den letzten walisischen Prinzen abgesetzt hatte. Seither tragen die britischen Thronfolger den Titel Prince of Wales – seither ist Wales nicht mehr unabhängig. Doch dieses Land im
Westen des Vereinigten Königreichs, ungefähr so groß wie Sachsen­Anhalt, hat sich eine eige­ ne Identität erhalten. Eine halbe Millionen Menschen, fast 20 Prozent der Bevölkerung, sprechen hier Walisisch: eine keltische Sprache, die für Außenstehende fast nur aus Zungenbrechern zu bestehen scheint.

Algen, Holz und Tand abgelegt hat. Rastlos schweifen seine Augen umher, alle paar Meter bleibt er stehen und fischt etwas aus dem Algenwirrwarr – ein Stück von einem bleich gewaschenen Tau, einen Pinsel, an dem noch Farbreste kleben, einen silbergrauen Zweig. „Der ist perfekt für ein Ensemble mit aufgewühltem Meer, auf dem eines meiner Boot segeln wird“, sagt er und wirft alles in seinen Beutesack. Oft läuft er stundenlang über die Strände. „Wenn ich nach Treibgut suche, bin ich am glücklichsten“, sagt Ramsell. Also ziehen wir weiter, die Blicke gesenkt, die Zeit vergessen. Neben uns, wo die Wellen des Meeres schäumend im Sand versickern, picken rotschnäbelige Austernfischer hektisch im Sand. Gut 30 Kilometer weiter südlich, auf einer Halbinsel in der Mündung des Dwyryd, parke ich bald darauf im Lebenswerk eines anderen Sammlers.

Clough Williams­Ellis, ein autodidaktischer Architekt und Adliger, hat hier 50 Jahre lang bis zu seinem Tod 1978 ein künstliches Dorf in mediterranen Farben erbaut,

ein Sammelsurium architektonischer Stile. „Er rettete ganze Häuser, Gebäudeteile und Skulpturen vor dem Abriss und brachte sie her“, erzählt Meurig Jones, der mich durch die Gassen von Portmeirion führt, vorbei an Häusern mit krummen Dächern und Nischen, in denen Heiligenfiguren stehen.

Ein dicker goldener Buddha hockt in einem Pavillon, burmesische Tänzerinnen recken sich an der zentralen Piazza auf ionischen Säulen zum Himmel. „Clough wollte Spaß in die Architektur bringen“, sagt Jones. Das ist ihm gelungen. Um die 200000 Besucher kommen jedes Jahr, um sein exzentrisches Erbe zu sehen, in vielen Häusern befinden sich Gästezimmer. Portmeirion ist wie wilder Reggae in einem Land getragener Choräle.

Am nächsten Morgen verlasse ich für einige Kilometer die A487, um nach Harlech zu fahren, wo Eduard I. ein weiteres seiner Machtsymbole bauen ließ. Weithin sichtbar thront seine Burg auf einem Felsen über dem Meer, ein nahezu quadratischer Bau mit dicken Rund­ türmen. Eine steile Straße führt von ihr hinab zu einer moosgrünen Dünenlandschaft, hinter der ein kilometerlanger Strand liegt. Barfuß laufe ich über den Sand und stemme mich gegen den Wind, der kleine Sandwirbel vor sich hertreibt und den Strandhafer kämmt. Bin ich wirklich ganz allein auf diesem unbegreiflich ich schönen Flecken Erde?

In einer Senke zwischen den Dünen entdecke ich eine schiefergedeckte Kirche. Im wind­ stillen, sandigen Kirchhof stehen verwitterte Grabplatten mit walisischen Inschriften. Es ist Kein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint.

Kurvenreich windet sich die A487 weiter nach Süden, erst durch dichte Wälder und über alte Steinbrücken, dann ganz nah an der Küste zum traditionsreichen Seebad Aberystwyth und anderen Orten die ich nicht einmal versuche aus­ zusprechen. Blaenplwyf. Llwyncelyn. Aberaeron. Schafsweiden reichen bis an die Ränder der Klippen, eine Möwe fliegt für eine Weile neben der Beifahrerscheibe her. Dann taucht sie ab und verschwindet hinter Felsen.

In New Quay, wo bunt gestrichene Häuser am Hafen stehen, treffe ich am nächsten Morgen Andy Evans, einen entspannten Waliser mit Stoppelbart und roter Gummilatzhose. Sein Vater fuhr noch zum Fischen raus, er selbst nimmt Gäste mit in die Bucht von Cardigan, um nach Delfinen Ausschau zu halten. In einem offenen Metallboot gleiten wir durch die Wellen. Bei einer gelben Boje hält Evans an und zieht einen mit Leinen umwickelten Gitterkorb an Deck, in dem eine krebsähnliche Kreatur mit langen Beinen hockt. „Eine Seespinne“, sagt er und nimmt sie aus der Reuse. Sie ist größer als seine Handfläche, ihr dornenbewährter Rückenpanzer ist von Algen bewachsen. Wenig später holt er einen Hummer an Deck, ein prächtiges Exemplar mit blauen Beinen. Dann wirft er beide zurück ins Wasser. Und tatsächlich sehen wir auch Delfine. Sie heben ihre Rückenflossen im Gleichtakt aus dem Wasser, zerschneiden die Wellen und verschwinden so elegant, wie sie gekommen sind.


— Ganzer Text: National Geographic Traveler 2017
— Fotos: Gulliver Theis