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Die Welt da draußen

Text: Mirco Lomoth | Fotos: Nicholas Roemmelt | National Geographic Traveler 3/17

Hinter Rhinow beginnt die Finsternis. Die Lichter der Straßenlaternen schwinden im Rückspiegel, vor uns liegen düstere Alleen, deren Bäume als schwarze Silhouetten vor einem blassen Abendrot stehen. Merkur, der Sonnennachbar, behauptet sich schon als flimmernder Punkt gegen das letzte Licht des Tages. Im Radio verkündet die Sprecherin: „Es wird eine sternenklare Nacht“. Deswegen sind wir hier – auf dem Weg ins Westhavelland, in eine der dunkelsten Ecken Deutschlands. Wir wollen in die Sterne schauen.

In einer Welt voller Leuchtreklame und hell erleuchteter Straßen ist Sternenbeobachtung zu einem Luxus geworden. Man muss nach der Dunkelheit suchen, die es braucht, um sehen zu können, was vor wenigen Generationen ein üblicher Anblick war: Die Unendlichkeit des Kosmos.    

Im Westhavelland, einem dünn besiedelten Landstrich knapp 90 Kilometer westlich von Berlin, haben sich mehrere Gemeinden zusammengetan, um den Nachthimmel zu schützen. Sie schalten unnötige Lichtquellen ab und haben einen „Sternenpark“ geschaffen, um Sternenfreunde herzulocken. Der Park ist eines von drei Nacht-Schutzgebieten in Deutschland, die von der International Dark Sky Association anerkannt sind – neben dem Nationalpark Eifel und dem Biosphärenreservat Rhön. Weltweit gibt es rund 55.

Wir halten an einem Acker, stellen die Scheinwerfer ab und steigen aus. Stockfinstere Nacht verschluckt uns. Über uns versinken die hellsten Sterne nach und nach in einem Ozean funkelnder Lichtpunkte. Irgendwo bellt heiser ein Fuchs.

„Mit bloßem Auge können wie hier um die 2500 Sterne sehen, in Großstädten wie Berlin sind es aufgrund der Lichtverschmutzung vielleicht noch 100“, sagt Thomas Becker, der den Sternenpark mitentwickelt und Gäste durch die Nacht führt. An diesem Ort, auf einem einsamen Acker im Nordwesten des Parks, hat er 21,5 Magnitude pro Quadratbogensekunde gemessen. Auf der Skala der astronomischen Resthelligkeit ist das ein beeindruckender Wert – 21,8 steht für absolute Finsternis. In Berlin, dessen Lichtglocke hinter den Bäumen noch zu erahnen ist, misst man 18,5.

Wenn man aus der Stadt in eine solche Dunkelheit kommt, mag man sich kaum sattsehen an der Sternenvielfalt, die sich über einem aufspannt. Wie gebannt starrt man in die Höhe, entdeckt bald den Großen Wagen, Orion mit seinem Schwertgehänge, die Plejaden und Sirius, den Hundsstern, der jetzt im Frühjahr wie eine kleine Schweißflamme bläulich-weißglühend tief im Westen steht. Oder Aldebaran, das Auge des Stiers, das rötlich flimmert.

Je mehr sich die Augen ans Dunkel gewöhnen, desto verlorener fühlt man sich in der Unendlichkeit der Sterne, Nebel und Galaxien. Die Wintermilchstraße erstrahlt wie ein Kollier aus leuchtenden Edelsteinchen und vom Horizont ragt ein blasser Schimmer steil zu ihr auf. „Das ist das Zodiakallicht, das man nur sehen kann, wenn es dunkel genug ist – es besteht aus Staub, der von der Planetenentstehung übriggeblieben ist“, sagt Becker, der sich am Nachthimmel auskennt, wie ein Jäger in seinem Revier. Manchmal steht er bis zum Morgengrauen hier auf dem Acker mit seinem Teleskop, genießt die nächtliche Stille, die nur ein gelegentlicher Schrei der Schleiereule durchbricht oder das Röhren eines Hirsches, und hält Ausschau nach Quasaren – Milliarden von Lichtjahren entfernten, hell leuchtenden Galaxienkernen, die von Schwarzen Löchern verursacht werden. „Für Laien sehen die eher unspektakulär aus, aber bei mir kommt dann der Jagdtrieb durch.“

Den Sternenhimmel auf sich wirken zu lassen, ist eine existenzielle Erfahrung. Doch immer weniger Orte in Europa sind dunkel genug dafür. Selbst viele Urlaubsziele, von denen man früher Erinnerungen an überwältigende Nachthimmel mitbrachte, sind heute hell erleuchtet. Ein aktueller „Atlas der künstlichen Himmelshelligkeit“ zeigt, wie schlimm die Lage ist. Nur jeder dritte Europäer kann demnach überhaupt noch die Milchstraße sehen, in Den Haag oder Paris ist der Himmel nachts gut 40 Mal heller als natürlich. Solche Ballungszentren sind im Atlas weiß, pink und rot gefärbt – wie entzündete Stellen eines heiß gelaufenen Planeten. Blaue Flecken mit mäßiger Lichtverschmutzung findet man in Westeuropa nur noch vereinzelt, in ländlichen Gegenden Spaniens, Zentralfrankreichs, Ostdeutschlands – oder in den Bergen Österreichs und der Schweiz.

„In den Alpen gibt es noch immer viele dunkle Hintertäler, in denen man sich gut vor dem Licht der Städte schützen kann“, sagt der Astrophysiker Marco Barden, der an der Universität Innsbruck über Jahre Galaxien vermessen hat. „Ein Vorteil der Höhe ist auch, dass das Seeing hier geringer ist, also das Maß für Luftunruhe, das die Sterne hin- und hertanzen lässt.“ Steigt man von Meereshöhe auf 3000 Meter, reduziert sich dieses Tanzen um etwa ein Viertel, was bei der Sternbeobachtung mit dem Teleskop viel ausmacht.

Wie viele Hobby-Astronomen, zieht es auch den Astrophysiker Marco Barden in seiner Freizeit immer wieder an dunkle und hoch gelegene Orte – in die Alpen oder besser noch in die Berge Skandinaviens, die im „Atlas der künstlichen Himmelshelligkeit“ als einzige in Westeuropa grau eingefärbt sind, weil dort fast noch eine natürliche Nachtdunkelheit herrscht. Genüsslich betrachtet er dann die Schönheiten des Himmels, etwa die Andromeda-Galaxie oder den Ringnebel im Sternbild der Leier. „Menschen haben schon immer in den Himmel geschaut, wenn wir das nicht mehr tun, verlieren wir unser Staunen und Wundern über den Kosmos.“…

— Ganzer Text in National Geographic Traveler 3/17.
— Fotos: Nicholas Roemmelt