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Die Einsamen

Text: Mirco Lomoth
Fotos: G. Miranda/FUNAI/Survival

   ie schauen durch das Dickicht zum Himmel, fünf oder sechs Männer, nackt bis auf Hüftgürtel aus Baumrinde. Ihre erstaunten Gesichter sind mit roter und schwarzer Farbe bemalt. Lächelt einer? Hält sein Nebenmann ihn zurück, damit er die Deckung unter dem Blätterdach nicht aufgibt? Ein zweites Foto zeigt eine Hütte aus Palmwedeln auf einer Lichtung im Regenwald, etwa zehn Meter lang, umgeben vom Gärten mit Maniok, Bananen, Erdnüssen, Mais. Ein Mann flieht in den Wald, seine Haut ist mit einem Januarmuster verziert. Ein anderer richtet Pfeil und Bogen direkt auf die Kamera, sein Schädel ist rasiert bis auf den Hinterkopf, der Blick entschlossen, die Stirn liegt in Falten. Vor ihm, auf einem Dach aus Palmwedeln, hockt ein bunter Ara.

Die Fotos wurden im Dezember 2016 von einem Helikopter aus aufgenommen, am Oberlauf des Humaitá-Flusses, im dicht bewaldeten Grenzgebiet zwischen Peru und Brasilien. Sie geben einen seltenen Einblick in die Lebenswelt eines Volks, das jeden Kontakt zur Außenwelt vermeidet. Welche Sprache sprechen diese Menschen? Zu welchen Göttern beten sie? Wie ziehen sie ihre Kinder auf? Wir wissen es nicht. Forscher und Politiker nennen sie die „Indianer vom oberen Humaitá“.

Im 21. Jahrhundert gibt es weltweit noch mehr als 100 isoliert lebende Völker (siehe Grafik). Die weitaus meisten von ihnen im dichten Amazonas-Regenwald Brasiliens und Perus, einige auch in Bolivien, Ekuador, Kolumbien und Paraguay, in Papua-Neuguinea und auf den Andamanen im Indischen Ozean. Manche zählen mehrere hundert Angehörige, wie die Mashco Piro in Peru, andere nur noch wenige Individuen. Von einem Mann, der ganz allein im Regenwald lebt, nimmt man an, dass er der letzte Überlebende eines Volkes ist, das von Farmern ausgelöscht wurde. Er zieht umher, baut Hütten und gräbt tiefe Erdlöcher, um sich zu darin zu verstecken. Jeden, der sich nähert, beschießt er mit Pfeilen.

In einer Welt, die immer weiter zusammenwächst und alle natürlichen Ressourcen zu verschlingen droht, bleibt kaum noch Platz für isolierte Völker und ihre Lebensweisen, die auf Jagen und Sammeln beruhen, und auf kleinen Anbauflächen, die mit den Menschen durch die Wälder wandern. Doch Agrar- und Energiekonzerne, Siedler, illegale Holzfäller, Goldwäscher und Drogenschmuggler dringen immer weiter in den Regenwald vor – bis in die letzten unberührten Ecken, die diesen Völkern bis heute Schutz bieten. Straßen werden gebaut, Staudämme errichtet, Wälder überflutet.

Noch nie hat sich die Frage, wie wir diese Völker schützen können, so dringlich gestellt, wie heute. Sollten wir sie kontaktieren, um sie vor den Folgen unkontrollierter Kontakte zu beschützen? Oder schaffen wir es, ihnen ein selbstbestimmtes Leben im Wald zu ermöglichen? Mancherorts ist der Druck schon jetzt so stark, dass diese Völker selbst Kontakt zur Außenwelt aufnehmen – weil sie keine Jagdtiere mehr finden, weil Eindringlinge sie terrorisieren oder eingeschleppte Krankheiten unter ihnen wüten.

Im Juli 2014 treten vier junge Männer vom Volk der Txapanawa in der Nähe des brasilianischen Dorfs Simpatia aus dem Wald, unweit der Grenze zu Peru. Sie sind nackt, tragen nur schmale Gürtel, mit denen sie ihre Penisse hochgebunden haben. In den Händen halten sie Pfeil und Bogen, ihre Gesichter sind geweißt. Zwei von ihnen waten durch das brusttiefe Wasser des Envira-Flusses zu einer Sandbank, nehmen vorsichtig Bananenstauden entgegen, die ihnen ein Mann aus Simpatia überreicht. Sie beginnen, auf ihn einzureden, gestikulieren wild, zeigen immer wieder aufgebracht flussaufwärts Richtung Peru. Im Dorf greifen sie nach bunten Kleidungsstücken, nehmen eine Machete und eine Axt mit, bevor sie sich auf die andere Flussseite zurückziehen.

„Einige Tage nach dem Erstkontakt bei Simpatia wurde einer der Männer mit starkem Husten beobachtet und es bestand die Gefahr, dass er die ganze Gruppe anstecken würde“, erzählt Douglas Rodrigues von der Universität São Paulo, der seit 1980 als Arzt und Forscher mit indigenen Völkern im Amazonasgebiet arbeitet und von der brasilianischen Indianerbehörde Fundação Nacional do Índio (FUNAI) nach dem Vorfall nach Simpatia gerufen wurde. „Isoliert lebende Völker haben keinerlei Gegenmittel gegen Infektionen der Europäer, die bei ihnen oft tödlich enden.“ Schon ein einziges Kleidungsstück könne ausreichen, um Keime zu übertragen, die ganze Familien auslöschen. Bei Gruppen am Xingu-Fluss haben Rodrigues und seine Kollegen beobachtet, dass sich das Immunsystem erst drei bis vier Generationen nach dem Kontakt zu Außenwelt anpasst. Eine medizinische Versorgung nach dem Erstkontakt ist daher überlebenswichtig.

Mit sechs Männern, darunter zwei Übersetzer vom verwandten Volk der Yaminawá, folgt Rodrigues den Txapanawa in den Wald, um das Schlimmste zu verhindern. Zwei Tage schlagen sie sich durchs Dickicht, dann hören sie plötzlich Pfiffe, die nicht von einem Vogel stammen. Die Txapanawa versuchen mit ihnen zu kommunizieren. Durch das Blätterdickicht erspähen sie zwei Männer, die an einem Flussstrand stehen, einer ist offensichtlich entkräftet und stark erkältet. „Unsere Übersetzer schafften es bald, ihr Vertrauen zu gewinnen“, erzählt Rodrigues. Dem kranken Mann verabreicht er Tabletten, sein Fieber geht schnell zurück. „Unsere westlichen Medikamente sind sehr effektiv gegen Schmerzen und andere Symptome, daher braucht es oft nicht viel Überzeugungskraft, sobald das anfängliche Misstrauen gebrochen ist.“ Rodrigues erfährt, dass sich noch weitere Txapanawa im Wald aufhalten. Was, wenn auch sie sich angesteckt haben?

„Wir haben die Männer in den Wald geschickt und vereinbart, dass sie nach einem Mond mit ihren Verwandten zurückkommen“, sagt Rodrigues. „Sie kamen tatsächlich.“ Die Txapanawa erlauben Rodrigues, die ganze Gruppe zu untersuchen, insgesamt 35 Männer, Frauen und Kinder. Er impft sie gegen Masern, Grippe, Tuberkulose. FUNAI richtet bald darauf einen Stützpunkt am Fluss ein, vier Bootstunden von Simpatia entfernt. Hier können die Txapanawa seither medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, sie bekommen Kleider und Werkzeuge, können bleiben – oder zurück in den Wald gehen. …


— Ganzer Text in P.M. 11/17