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Das verlassene Paradies

TEXT & FOTOS: MIRCO LOMOTH
FAS | NR.22 – 05.06.2016

   as Mittelmeer liegt gleißend wie ein Spiegel unter der Morgensonne. Drüben, auf der türkischen Seite der Meerenge von Lesbos, schiebt ein graues Militärschiff eine hohe Bugwelle vor sich her. Die Nato patrouilliert an den Rändern Europas. Dahinter zeichnen sich im Dunst die Umrisse von Häusern am Fuße blauer Hügel ab. So nah sind sich Europa und die Türkei hier. Ich gehe an Liegestühlen vorbei zum Frühstücksbuffet. Anfang Mai beginnt auf Lesbos die Urlaubssaison. Freunde, denen ich daheim von meinen Reiseplänen erzählt habe, schauten mich verständnislos an. Lesbos? Auf keinen Fall würden sie dort jetzt Urlaub machen.

An diesem vorletzten Morgen im April drängen sich einige Norweger, Deutsche und Engländer am Frühstücksbuffet. Hotelbesitzer Iannis Troumpounis sitzt mit einem Becher Kaffee unter einem Olivenbaum am Strand, ein herzlicher kleiner Mann mit grauem Haarkranz. „Wir haben Glück, dass wir Gäste haben, weil wir seit ein paar Jahren eine spezielle Reise zum orthodoxen Osterfest anbieten, aber die Buchungen für den Sommer liegen 60 Prozent hinter letztem Jahr“, sagt er. „Viele Gäste kommen nicht, weil sie sich im Urlaub nicht schuldig fühlen möchten, wenn um sie herum Menschen leiden.“
Auf meinem Weg vom Flughafen zum Hotel habe ich sie gesehen, junge Männer, manchmal auch Frauen und Kinder, die in Gruppen neben der Straße laufen. Die meisten kommen aus dem Abschiebelager Moria, das nördlich von Mytilini in den Bergen liegt, in einem Dorf. Sie warten darauf, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden, nach 25 Tagen Haft dürfen sie sich mit Passierschein tagsüber frei auf der Insel bewegen. Sie gehen am Meer spazieren, schauen sich die Altstadt von Mytilini an oder das Kastell, das zwischen Pinien liegt. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk sind im Moment knapp 4300 Flüchtlinge auf der Insel registriert, Neuankömmlinge gibt es seit dem Abkommen der EU mit der Türkei kaum noch. Für die Einheimischen kehrt jetzt so etwas wie Normalität ein. Doch die Touristen bleiben fern. Nur für die Hotels in der Hauptstadt Mytilini, die schon im Winter mit Journalisten, Freiwilligen und Sicherheitskräften belegt waren, laufen die Geschäfte.

Am Nachmittag wandere ich mit dem Hotelier Troumpounis und einer Gruppe seiner Gäste durch terrassierte Olivenhügel zum Bergdorf Asomatos. Wilder Lavendel und Orchideen mit feuerroten Zungen wachsen am Wegesrand, zwischen den silbergrünen Blättern der Olivenbäume sitzen die ersten zarten Blütenknospen.

„Es kam mir vor wie der Auszug aus Ägypten, es war sehr bewegend, all die Mütter mit ihren Kindern zu sehen und zu denken, dass ich es genauso machen würde, wenn bei uns Krieg herrschen würde.“

Sabine, eine Pfarrerin aus Frankfurt, erzählt vom letzten Sommer auf Lesbos, als plötzlich jeden Tag Tausende übers Meer kamen. Sie wollte helfen, fuhr mit ihrem Mietwagen syrische Familien zu den Registrierstellen, kaufte Rettungsdecken, Essen und Wasser. „Ganz viele Touristen haben es genauso gemacht und einfach gehandelt, es war schrecklich traurig, aber auch bereichernd“, erzählt sie. „Am beeindruckendsten waren für mich aber die Einheimischen, die selbst so wenig haben und so viel gegeben haben.“

Vor fünf Jahren war ich schon einmal in Asomatos. Auch damals saßen wir an einer langen Tafel auf der Agora. Im Hotel von Troumpounis traf ich jugendliche Flüchtlinge aus Afghanistan, Westafrika und Pakistan, die er und seine Frau Daphne eingeladen hatten, um eine Nacht dort zu verbringen, Fußball mit den Kindern der Hotelgäste zu spielen und für eine Weile das Lager zu vergessen. Das Hotelier-Ehepaar engagiert sich seit Jahren für Flüchtlinge auf der Insel, gründete 2012 den Verein Odysseas, den viele Stammgäste und der deutsche Familienreisen-Veranstalter Vamos unterstützen. Als letztes Jahr die Flüchtlingswelle losbrach, war sofort eine Helfergemeinschaft zur Stelle.

Bei ihnen treffe ich Faradj aus Aleppo, einen großen schlanken Mann, der etwas Deutsch spricht. In Deutschland ist er bereits als Flüchtling anerkannt, arbeitet in einer Pizzeria in Emsdetten. Auf Lesbos besucht er seine Frau und seine fünf Söhne. Sie wären im Februar fast ertrunken bei dem Versuch, auf die Insel zu gelangen. Jetzt sitzen sie hier fest, dürfen nicht nach Deutschland, weil dem Paar die Heiratsurkunde fehlt. „In Deutschland sagen sie mir, geh’ zur Schule, geh’ arbeiten, integriere dich, aber all das macht für mich ohne meine Familie keinen Sinn, ich kann seit Monaten nicht schlafen und nicht essen. Ich danke Deutschland, dass es mir geholfen hat, aber so kann kein Mensch leben.“ …


Ganzer Text in FAS NR.39 – 27.09.2009