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Albert Journal No. 1

Redaktion: Mirco Lomoth | Fotos: Pablo Castagnola
Gestaltung: fonshickmann m23
Auftraggeber: Einstein Stiftung Berlin 2015

   ür die Berliner Einstein Stiftung betreue ich das jährlich erscheinende Albert-Journal zum Wissenschaftsstandort Berlin – von der Themenkonzeption bis zur Textproduktion. Die erste Ausgabe 2015 erschien zum Thema Mathematik. Einer der genialen Mathematiker, die ich für das Heft getroffen habe, ist Roger D. Traub, der Computermodelle von Nervenzellen und neuronalen Schaltkreisen entwickelt, um damit unter anderem die Ursachen von Epilepsie zu ergründen. Ein Auszug aus meinem Interview „Die Hirnformel“ ab Seite 66:

Roger D. Traub steht in der Lobby des Hotel Adina, wenige Schritte vom Berliner Hauptbahnhof entfernt. Er trägt Cordhose, Wanderschuhe und ein Jeanshemd mit Perlmutt-Knöpfen, in seiner Brusttasche steckt einen Notizblock mit drei Kugelschreibern. Er grüßt zurückhaltend, fast vorsichtig. Das Interview soll in der Hotelbar stattfinden, wo noch das Frühstücksbüffet aufgebaut ist. Traub setzt sich in einen roten Ohrensessel, der vor einem großen Fenster steht. Draußen sind die Backsteinbauten der Charité zu sehen. Seit Jahren bucht er sich hier ein Zimmer, wenn er nach Berlin kommt. Die Kellnerin bringt Wasser mit Kohlensäure.

Traub ist Mathematiker und Neurologe, er entwickelt minutiöse Computermodelle von Nervenzellen und von Netzwerken Tausender Nervenzellen im Gehirn, um herauszufinden, wie diese funktionieren und wie die Zellen untereinander kommunizieren. Dabei arbeitet er mit experimentellen Neurowissenschaftlern der Charité – Universitätsmedizin Berlin zusammen, die Hirnaktivitäten an Hirnschnitten (in vitro) oder durch Messungen am intakten Gehirn (in vivo) erforschen. Als Einstein Visiting Fellow ist Traub in den letzten vier Jahren um die 20 Mal nach Berlin gekommen.

Denn die Berliner Experimente haben ein wichtiges Modell Traubs gestützt, das beschreibt, wie sogenannte sharp waves entstehen, also in der Hirnstromkurve „spitz“ aussehende Wellen. Sharp waves können im normalen Gehirn, aber auch in krankhaft veränderter Form bei Patienten mit Epilepsie gemessen werden. Bisher dachte man, das sharp waves ausschließlich durch Synapsen generiert werden. Doch Traubs Modell und die Experimente an der Charité legen nahe, dass zusätzlich sogenannte gap junctions eine sehr wichtige Rolle spielen. Diese Zellverbindungen befinden sich in den Fortsätzen der Nervenzellen, die elektrische Impulse im Gehirn transportieren. Falls die Annahme zutrifft, würde das neue Therapiemöglichkeiten für Epilepsie eröffnen.

Traub klappt seinen Laptop auf und öffnet einen Power-Point-Vortrag, mit dem er Laien seine Welt erklärt. Oder zumindest eine oberflächliche Version seiner Welt. Auf dem Bildschirm erscheint die schematische Darstellung des neuronalen Schaltkreises eines Hummers, der aus nur 15 Nervenzellen besteht.

„In Bezug auf das Ganze habe ich höchstens ein besseres Verständnis davon erlangt, warum es so schwierig ist, viel zu verstehen.“



„Es ist ein bisschen wie bei einer Waschmaschine mit nur wenigen Programmen: Die Signale des Schaltkreises sorgen dafür, dass die Magenmuskeln des Hummers korrekt funktionieren und die Zähne im Magen in verschiedene Richtungen rotieren. Das System des Hummers ist so klein, dass es möglich ist, einzelne Zellen zu isolieren, ihre Eigenschaften zu definieren und die Verbindungen unter ihnen in einem Modell zu kartieren. Im Experiment kann man dann Elektroden an den Zellen anbringen und beobachten, wie diese auf künstliche Stimulierung reagieren und ein bestimmter Muskel den Befehl bekommt zu kontrahieren.“

Er schaut auf.

„Das Gleiche würde ich gerne beim menschlichen Gehirn verstehen. Da wissen wir von all dem nichts. Wir müssten bestimmte Module des Gehirns isolieren, herausnehmen und in vitro untersuchen, was nicht möglich ist. Und selbst wenn, wüssten wir mit den zellulären Informationen nichts anzufangen – es sind einfach zu viele Zellen, und wir wissen nicht, wie sie verbunden sind.“

Wird Ihnen manchmal schwindelig, wenn Sie versuchen das menschliche Gehirn zu verstehen?
Nein, meine Strategie ist, dass ich mir Teilprobleme herauspicke. Ich habe als Neurologe viel mit kranken Menschen gearbeitet und festgestellt, dass es sehr viel zu tun gibt, was für die Menschheit nützlich ist, ohne dass man das Gehirn als Ganzes verstehen muss. Wenn in unserem Kopf etwas falsch läuft, passiert das oft auf eine sehr spezifische Weise, die man zu fassen bekommen kann, um etwas Gutes zu bewirken. Wenn man stattdessen versucht, das Ganze zu verstehen, hat man schnell ein Leben verbraucht, ohne viel zu erreichen.

Haben Sie denn das Gefühl, bereits viel verstanden zu haben?
Im spezifischen Sinne schon. Unsere Arbeit hat zum Beispiel einen Beitrag dazu geleistet, dass Epilepsie anders verstanden wird, und sie hat neue Ideen hervorgebracht, wie man diese Krankheit behandeln kann. Das ist sicher nützlich. In Bezug auf das Ganze habe ich höchstens ein besseres Verständnis davon erlangt, warum es so schwierig ist, viel zu verstehen.


Ganzer Text in ALBERT No. 1