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A Stückerl Heile Welt

TEXT & FOTOS: MIRCO LOMOTH
FAS | NR. 45 – 08.11.2015

   ier endet ihr Land. Der türkis blaue Perquilauquén-Fluss liegt tief unter uns in seinem steinigen Bett, rauscht über geschliffene Felsen und zeichnet eine lange Kurve ins endlose Grün der Bäume. Robert Matthusen springt auf einen vorstehenden Felsen und beugt sich über den Abgrund. Diese Wildnis hat er immer geliebt. Hierher kamen sie manchmal mit den Tanten, liefen durch die Wälder, in denen es Zwerghirsche und Stinktiere gibt und sprudelnde Bäche, und schauten sich den bemoosten Stein an, in den Menschen, die lange vor ihnen hier gelebt haben, die Sonne und das Wasser eingraviert haben. „Es gibt schöne Erinnerungen, aber alles war durchsetzt mit Angst“, sagt Robert Matthusen, ein Mann mit blonden Löckchen und jungenhaftem Lächeln, das für einen Augenblick wie eine Maske wirkt, die er über seine wahren Gefühle gezogen hat. Mit einem Satz ist er runter vom Felsen und steigt in den grasgrünen Unimog, Baujahr 1962. Damit fährt er Touristen durch das weitläufige Land der einstigen Sekte Colonia Dignidad, die sich heute Villa Baviera nennt, bayerisches Dorf – 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago.

Wir rollen durch weite Felder mit gelb blühendem Raps und zartgrünen Erbsenpflanzen, hinter denen das strahlend weiße Gebiss der schneebedeckten Andenkette aufragt. An einem kleinen Wasserkraftwerk hält Matthusen an. Der Maschinenraum ist erfüllt vom Dröhnen der Turbinen, die seit den sechziger Jahren Strom für die abgelegene Siedlung produzieren. „Der zuständige Elektriker ist schon vor Jahren gegangen, er hat es hier nicht mehr ausgehalten“, sagt Matthusen. Seitdem muss er die Turbinen in Schuss halten. Matthusen tritt ans Fenster. Meter unter ihm läuft das Wasser aus den Turbinen in ein Becken und weiter in einen Bach. „Hier stand Paul Schäfer immer und hat eine Drahtspule ins Wasser geworfen, die er unter Strom gesetzt hat, um die Fische zu betäuben“, erzählt Matthusen. „Als Jungen mussten wir hineinspringen und sie rausholen, ich habe am ganzen Körper den Strom gespürt, mein Herz hat gerast vor Angst.“ Er lächelt wieder, als wolle er sagen: Das ist längst Vergangenheit, wie all die schlimmen Dinge, die unter ihm, Paul Schäfer, hier passiert sind. All die Jahrzehnte seines Regimes, das auf Angst, Gewalt und Misstrauen gebaut war und sich nach außen als deutsche Musterkolonie ausgab, damit er sich ungestört an den Jungen vergehen konnte.

Matthusen war 25 Jahre alt, als der Sektenführer untertauchte. Über manches will er bis heute nicht reden. Doch er will an diesem Ort bleiben, trotz der Erinnerungen.

Er hat geheiratet und drei Kinder bekommen, muss sich um den Unimog und die Turbinen kümmern. Kürzlich hat er einige Wasserfahrräder angeschafft, um sie an Touristen zu vermieten. „Es hat sicher zehn Jahre gedauert, nachdem Schäfer weg war, bis sich das Leben hier etwas normalisiert hat“, sagt er. „Jetzt, wo wir in Freiheit leben, will ich im Tourismus etwas aufbauen, das ich meinenEin kurzer Moment des Schreckens durchfährt einen, wenn man mit dem Auto von der chilenischen Provinzstadt Parral eine knappe Stunde in Richtung der schneebedeckten Anden fährt und plötzlich Betonpfähle mit Stacheldraht im Wald auftauchen, Bäume in allzu deutschem Abstand neben der Straße wachsen. An einem Schlagbaum muss man anhalten. Eine hellhäutige Dame mit zurückgebundenen Haaren und langem schwarzem Rock erscheint, grüßt mit norddeutschem Akzent und fragt: „Sind Sie angemeldet?“ Sie verschwindet im Pförtnerhäuschen und kommt kurz darauf lächelnd wieder heraus. Der Schlagbaum geht hoch. „Folgen Sie der Eichenallee bis zum Hotel.“

Lange Zeit durfte niemand diese Pforte passieren, ohne dass Paul Schäfer dem zugestimmt hätte. Der in Bonn geborene evangelische Jugendpfleger und selbsternannte Prediger gründete die Colonia Dignidad 1961, nachdem in Deutschland ein Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener gegen ihn eingeleitet worden war. Seinen Anhängern verkaufte er die Ausreise nach Chile als Ruf Gottes zu einem Leben in einer christlichen Urgemeinde. Mehr als 200 folgten ihm in die „Kolonie der Würde“. Schäfer errichtete eine streng hierarchische Struktur unter seiner Führung, unbezahlte Arbeit für das Gemeinwohl wurde zum Gottesdienst erklärt, ein Leben in der Familie, Heirat und sexuelle Kontakte wurden verboten. Kinder wuchsen von ihren Eltern getrennt in Gruppen auf, kannten nur Tanten und Onkel. Schäfer, der sich „ewiger Onkel“ nennen ließ, verging sich im Verborgenen an den Jungen.

Ein hoher Zaun, Wachleute und scharfe Hunde schlossen die Colonia Dignidad über Jahrzehnte von der Außenwelt ab. Innen hatte Schäfer seine Jünger fest im Griff. Bei Zwangsbeichten mussten selbst Träume offengelegt werden, Sündige wurden vom Kollektiv beschimpft und verprügelt, um den Teufel auszutreiben. Wer aufbegehrte, wurde mit Psychopharmaka ruhiggestellt und mit Elektroschocks gequält. Doch damit nicht genug: Dem chilenischen Geheimdienst erlaubte Schäfer während der PinochetDiktatur, auf dem Grund der Colonia Dignidad Oppositionelle zu foltern und verschwinden zu lassen. Opfervertreter gehen von rund hundert Menschen aus, die hier ermordet wurden. …


Ganzer Text in FAS  NR. 45 – 08.11.2015